Jede Seite hat zwei Seiten

Der 10. Mai ist der Tag, der jährlich den 23. April mit dem 1. und 3. Mai verbindet; #TAG_DES_FREIEN_BUCHES – Ein Kommentar in gedenkender Theorie und zynischer Praxis.

Im Unterschied zum Tag des Buches geht es heute nicht nur ums Lesen, sondern auch um Zensur, also ähnlich dem 3. Mai, dem Tag der Pressefreiheit, aber eben auch um Solidarität und kulturelle Offenheit. Der Tag des freien(!) Buches ist ein Gedenktag – vor allem der Bücherverbrennungen durch die Nazis, die am 10. Mai 1933 im Rahmen der „Aktion wider den undeutschen Geist“ in 22 Städten stattfanden, bei denen man zehntausende Bücher von marxistischen, jüdischen und anderweitig denkenden Schriftstellern konfiszierte und ins Feuer warf. Nie darf sich das wiederholen, da waren und sind wir uns einig, …

Doch wenn man Medien- und Kunstschaffende – auch in Europa – wieder zensiert sieht, wenn Autokraten das autonome Schreiben der Autoren verhindern, wenn staatliche Schurken dutzende stutzende Schreiber öffentlich am Veröffentlichen hindern, wenn Kritiker stillschweigend zum Schweigen gebracht werden und subtile Stimmen verstummen, wenn Diktatoren freie noch freie Journalisten noch und nöcher in Kisten und Löcher stecken, wenn auch bloß eine einzige Handvoll der freidenkerischen Handelnden von irgendwelchen Handlangern verschleppt, inhaftiert, gefoltert oder ermordet werden, wenn emporkommende Despoten aufstrebende Schriftsteller einer Zensur unterwerfen, wenn Literaten ins Exil und Künstler flüchten müssen, wenn Schriften verboten werden, wenn sich richtende Henker mit ‚Causae Schmähgedichte‘ beschäftigen müssen, wenn Attentäter Redaktionen überfallen und Missetäter Publizisten bedrohen, wenn Populisten Kolumnisten bis zum Mundtod rufmorden, wenn Schlachtrufe wie „FakeNews“ und „Lügenpresse“ von ‚besorgten Bürgern‘ lauter werden, wenn Bücher wieder brennen und xenophobe Ideologien aufflammen, – ja, wahrlich! – dann ist ein Tag wie heute nicht nur ein umso wichtiger Gedenktag, sondern wird zum Mahntag!

In diesem Sinne

Wie weltbürgerlich und -offen Europa theoretisch sein kann, zeigte sich bei der Verleihung des „Internationalen Karlspreises zu Aachen für die Einheit Europas“, die 2018 ebenfalls heute stattfand. Ausgerechnet heute, am Gedenktag der einstigen Bücherverbrennungen. Große Worte wurden gesprochen und starke Reden gehalten über die Vision eines gemeinsamen Europas, die ich gerne teile. Mit diesem Traum vor Augen blicke ich in die Zukunft, in Gedanken befinde ich mich jedoch in der Gegenwart und doch spüre ich noch die Vergangenheit im Rücken. So bin ich nicht leise genug, um mich laut zu erinnern; dass wir nicht vergessen, für die Freiheit – im Geiste oder auf der Straße – zu kämpfen! Zu erinnern, dass es nicht immer so war, wie jetzt, dass es nicht überall so ist, wie hier. Und anzuprangern, dass auch heute noch Zensur, Tyrannei, Verfolgung, Unterdrückung, Fremdenhass und Faschismus nicht vom europäischen Tisch sind, fernab von der Diplomatie der Freiheit und von der Praxis des Friedens.

2 Gedanken zu “Jede Seite hat zwei Seiten

  1. Gedenken, nachdenken und bedenken, werd ich heute. Dieser Artikel ist sehr kompakt und doch so differenziert und klar geschrieben, eindeutig von einem Denker. Scharf und voller Kontur geschrieben, ist mein Kopf mit diesem Inhalt nun eingenommen und stark beschäftigt. Danke werter Wortlieb.

    • Ja, das Denken und das Danken, das Gedenken und die Gedanken … oder das Bedanken? Auch! – Für die ach so feschen Blümchen, die Sie mir hier schenken und dafür, wie schön es ist, wieder einmal von Ihnen zu lesen!

      In diesem Sinne – so denke ich – habe ich zu danken, werte Vivienne, auf bald, so hoffe ich doch!

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