Das Journal ist auf Seite 183 von 366 aufgeschlagen, der Tag schreibt rein; ich lese einen meist inneren Exkurs über Abreißkalender, gute Vorsätze, die goldene Mitte, die zwei Hälften und über das heutige Halbjahr. Schalttag sei Dank.
Der Kalender zeigt mir in der Woche 27 den 183. Tag im Jahr als den 1. Juli heute an. Mitten im Schaltjahr nach Mittsommer, an einem Mittwoch zwischen Mittag und Mitternacht. Ich reiße das Blättchen ab, dreh es rum und les‘ es laut. „In der Mitte des Jahres sollten die guten Vorsätze überdacht werden und blablablah…“ — ironischerweise war dies einer meiner Vorsätze; jeden Tag das Kalenderblatt abzureißen und den Spruch zu lesen, bis zum letzten Blättchen, das hab ich bisher noch nie geschafft, ohne Fehltage ein ganzes Jahr lang. Ich wollte es, damit ich keinen Tag mehr verpasse, immer jeweils heute in der Gegenwart bleibe, bewusst, selbst wenn auch noch so ein verdammter Aphorismus von der Rückseite mir ins Gesicht entgegengrinst oder mir ein fades Zitat zu noch so einem verfluchten Tag ans Bein pinkeln sollte; jeden wollte ich leben und täglich das Kalenderblatt ablesen; mir zur Besinnung. Heute ist also die Jahresmitte das (an)fallende Fest, denke ich und an die sprichwörtlich ‚goldene‘ Mitte, wie sie auf dem Siegerpodest thront, zwischen dem zweitplatzierten Neujahr und dem bronzenen Altjahr, dabei mag ich Bronze viel lieber als Gold. Mir würde auch schon Bernstein reichen, gülden wie gewisse Stunden, wie Rum oder ein alter Single Malt. — Prost Mittjahr!

Auf den Tag genau dazwischen, wie zwischen den Jahren, doch diesmal als Mittler zwischen den Jahreshälften, am Berührungspunkt zweier Halben, von mir aus auch zwischen Stuhl und Bank, ähnlich eines Mittwochs, eines Mittags oder einer Mitternacht, in der Zornesfalte direkt zwischen den Augen, auf der Nasenwurzel zum Beispiel, in der Jahresfurche sozusagen, wo sich zwei Backen mittig spalten oder von hinten zwischen den Schulterblättern und von vorn am Busen, im Dekolleté prall dazwischen steckt dieser Halbjahrtag, inmitten zwischen zwei Sitten, zwischen Neujahr und Silvester, dank Schalttag vierjährlich, halbe-halbe für die vier Jahreszeiten, fifty-fifty fürs Kalenderblatt…
— Warum spricht der chronologische Jahrweiser an der Wand eigentlich von der ‚Mitte des Jahres‘ wie von einem Auge des Sturms? Wegen des Jahreskreises vielleicht? Wegen der Sonne und dem Zyklus etwa? Warum dann nicht gleich ‚Radius des Jahres‘!? Merkwürdiger Kalender. „Es heißt ‚Hälfte des Jahres‘!“, schrei ich ihn an, meinen stummen Monolog jejune durchbrechend, gefolgt von den Zweien, die erschreckt in den Raum stürzen, mit fragenden Blicken, wen ich hier denn anschreie. — „Prosit Halbjahr!“, donnere ich den beiden zu; sie lachen, einer geht wieder, der andere setzt sich zu mir und sagt: „Du solltest vielleicht etwas weniger…“, er stockt, blickt erst auf mein Glas, dann in meine Augen, – ich schau ihn an wie meinen Wandkalender und warte auf den Spruch – bevor er neu ansetzt: „Du solltest vielleicht etwas weniger schreien, dich nicht so aufregen.“ — „Abschreißkalender, so ein Schrott!“, entgegne ich, aber überlege mir, doch auf die heutige Weisheit des Tages zu hören, ein letztes Mal: Meine ‚guten Vorsätze‘ zu überdenken, die damals noch gar nichts von allgegenwärtigen Corona-Diskussionen oder alltäglich nervenden Kalender-Plattitüden wussten. Schließlich ist heute der richtige Zeitpunkt, um ‚bessere Nachsätze‘ fürs neue Halbjahr zu schmieden wie ein Kesselflicker am Amboss, einhämmernd für die zweite Hälfte, fürs abschließende Semester, für die letzte Chance in diesem Jahr. Vielleicht schaff ich es ja sogar, leiser zu trinken…