vom Lyrischen Ich ans Poetische Du

Leuchtturm mit Glocken

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Prolog

Am kürzesten Tag des Jahres wird jährlich die Kürze gefeiert; ob mit einer Kurzfilmnacht im Kino oder mit dem heutigen „Tag der Kurzgeschichte“. Mein Beitrag zur Wintersonnenwende soll Dich gut durch die Kälte geleiten und mit Glockengeläut Deinen Weg bereiten: Frohe Festtage!

Der Kirchturm gegenüber, wie wir ihn heute nennen, ist älter, als man denken kann, er war immer hier. Schon als ich noch Enkelkind war, erzählte mir meine Grossmutter von ihrer Grossmutter, als sie noch eine Enkelin war; vom Glockenturm, der seit jeher oben auf dem Hügel steht und mit seiner Glocke durchs Tal schallte, ermahnend bei Sturm und warnend, wenn Krieg aufzog; sie verkündete auch den Frieden, diese Glocke, sie läutete an jedem Trauer-, Gedenk- und Feiertag, manchmal auch aus purer Freude des ganzen Dorfes oder zum Trost eines zermürbten Mitbürgers, sie weckte uns tagein in der Morgendämmerung, sie läutete zur Mittagszeit und den Feierabend ein, und ein letztes Mal hörte man sie zur Mitternacht, wenn keine Gefahr drohte und man beruhigt schlafen konnte, tagaus.

Edwin, der Glöckner, lässt neuerdings wieder das Licht im Innern des Kirchturms gegenüber brennen, allabendlich von Dämmerung bis frühmorgens ins Grauen.

(Aus dem Tagebuch 4.Advent 1815)

Später dann liess der Turm auch noch Taufen verlautbaren und unsere Hochzeiten verkünden, die Glocke spielte stets auch das letzte Lied unserer Lieben zum Geleit; das Geläut begleitete uns alle, seit Generationen. Das Läuten der Glocke im Turm ist hier Wurzel und Stamm einer Region und der Glockenplatz, auf dem Versammlungen abgehalten werden und der Wochenmarkt tagt, wurde zum Zentrum der ganzen Gegend. Der Platz um den Turm herum heisst heute offiziell eigentlich Kirchplatz, aber das beachtet hier niemand, denn traditionsgemäss spricht man vom Glockenplatz, weil dieser schon vor der Kirche existierte. Neben eben unserem Glockenturm stand früher nämlich bloss eine kleine Mönchskapelle, die nach und nach, über Jahrdekaden hinweg, mit christlicher Euphorie stetig vergrössert, bis sie schliesslich an den Glockenturm angebaut und später gänzlich integriert wurde. Wie man vermutet, wurde einst anno dazumal eine Vereinbarung getroffen, die den Glockenturm weiterhin und für alle Zeiten als unabhängig erklärt, der Turmwärter sich jedoch dafür verpflichtet, mit einer von der Kirche gestifteten, zweiten Glocke auch die Verkündung kirchlicher Fest- und Feiertage zu übernehmen, so dass diese eine Glocke im Turm dem Dienst der Kirche unterstellt ist.

„Mit meinen Glocken oben in meinem Turm bin ich dem Himmel näher als der Pfaffe auf der Kanzeley! Höchstens die Chorleiterin mit ihrer Engelsstimme kommt in meine Sphären…“

#Edwin_der_Gloeckner

So genau weiss das aber niemand mehr, nur einer kennt sie alle, die Geschichten, die sich um diesen Turm ranken wie Märchen… So auch, dass man ihn einige Gezeiten über als Henkerturm verwendete und Verbrecher an seinen Strängen baumeln liess wie Glocken. Mit jedem Gehängten läutete es durch ganze Land und wenn die Glocken dann wieder verstummten, wurde der Gerechtigkeit Genüge verschafft. Man erzählt sich auch die Legende, dass der Kirchturm früher ein Leuchtturm war, weil das Meer bis hierhin zu den Bergen reichte. Jeder kennt eine andere Geschichte und beginnt man hier eine zu erzählen, stolpert man über drei andere Geschichten, doch einig sind wir uns hier alle: Der Turm war einfach schon immer da und hält Bestand gegenüber Sturm und Bedrängnis. All diese Geschichten interessierten mich seit jeher sehr, jedoch nicht so sehr, wie die Geschichte hinter desjenigen Mannes, der im Hintergrund an den Seilen zieht, den unsicht- aber deutlich hörbaren Turmwächter.

Edwin, der Glöckner, torkelt gerade zum gegenüberliegenden Kirchturm. Bin gespannt, welche Uhrzeit er gleich läuten wird…

(Aus dem Tagebuch 4.Advent 2015)

Die Glocken im Turm gegenüber läuten jedenfalls heute noch; nicht nur zu traditionellen Feiertagen, sondern auch zu spirituellen Festtagen, nicht nur zur moralischen Ermahnung, sondern auch zur lebenslustigen Erbauung. Dafür sorgt #Edwin_der_Gloeckner, wie man ihn hier nennt, welcher heutzutage den gegenüberliegenden Kirchturm beherbergt. Er pflegt nicht nur dessen zwei Glocken, sondern auch seine Bräuche, Traditionen und so kümmert er sich irgendwie nicht nur um das Dorf mit seinen Bewohner:innen, sondern um das ganze Tal, so kommt es manchem vor, beinahe auch ein wenig um die grosse Welt und ihren kleinen Frieden.

Epilog:
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Ob bei einem Schnäpschen zwischendurch unter Freunden, einem Schachspiel gegen sich selbst, seinem sozialen Bürgergewissen und auch mit seiner Tollpatschigkeit werden wir ihn begleiten und noch einige kurze Geschichten von ihm hören; ich habe mir zum Guten Vorsatz genommen, eben diese Anekdoten hier auf Wortliebling.com und Dir weiterzuerzählen, im nächsten Jahr.

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